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"Etwas Drittes..."  -  über Lo Spirito di Orfeo - Suite für Orchester nach Monteverdi

 

 

Nietzsches Worte über die Interpretationspraxis von Beethovens Musik lassen sich unschwer auf jegliches Bemühen anwenden, die Musik vergangener Epochen aufzuführen, und zwar unabhängig davon, ob dies mit „historischen“ oder „modernen“ Instrumenten geschieht, erst recht auf die über 400 Jahre alten Werke von Monteverdi. Mag auch historisch informierter Sachverstand dazutreten (was in heutiger Zeit selbstverständlich sein sollte), so sind wir doch zeitlich viel zu weit von der Epoche des Frühbarock entfernt, um wirklich eine authentische Aufführung des Orfeo produzieren oder erleben zu können. Zeitgenossen Monteverdis hielten diesen Anspruch bereits zwei Jahre nach dessen Tod für unerfüllbar!

Dennoch haben Forschung und Musikpraxis der letzten ca. 100 Jahre ein enormes Bewusstsein für die historischen Kontexte von Musik vor der Zeit audiotechnischer Reproduzierbarkeit geschaffen. Die detaillierte Erforschung der Notation, der historischen Lehrwerke, des Instrumentariums, des gesellschaftspolitischen und geistesgeschichtlichen Umfelds haben zusammen mit mittlerweile 70 Jahren Erfahrung einer professionellen Alte-Musik-Szene zu einem enormen Erkenntnisstand über das Musizieren insbesondere von Barockmusik geführt.

Im Jahr 2020 plante das Staatstheater Nürnberg eine Aufführung des Orfeo mit dem Nürnberger Staatsorchester. Monteverdis Musik einfach mit dem Instrumentarium eines modernen Sinfonieorchesters zu spielen, schien vor dem Hintergrund des Wissens um historische Aufführungspraxis allerdings keine zielführende Option zu sein. Das Spannungsfeld zwischen damaligen und heutigem Musizieren wurde zur Inspirationsquelle für eine Bearbeitung, die die Originalpartitur in einen permanenten Dialog zwischen historischer und moderner Sphäre stellt und die die Klänge Monteverdis mit Stilelementen aus den Bruchlinien der Musikgeschichte collagiert. Ein Streichquintett und ein Blechbläsersextett repräsentieren zusammen mit den Continuoinstrumenten die historische Ebene, während das Streichorchester und die Holzblasinstrumente moderner Bauweise für die aktuelle Perspektive stehen. Klangmittel der klassischen Moderne, der Avantgarde und des Jazz, jedoch auch Reminiszenzen an die antike Vorstellungen von Sphärenharmonie und der Geometrie der Obertöne bilden eine Reflexionsebene zur Originalpartitur von Monteverdi, ohne die originale Klanggestalt zu überdecken.

Hier die ca. 80minütige Gesamtfassung der Oper in der Nürnberger Fassung von 2020:

https://youtu.be/wAebOkFWo9U?si=zDI9trTn_BFJzSjZ

 

Mit Lo spirito di Orfeo entstand eine 10minütige Kurzfassung des Nürnberger Orfeo im Auftrag des Konzerthausorchesters Berlin, die die Orfeo-Geschichte aus der Perspektive der allegorischen Figur „La Musica“ erzählt. Eingebettet in die Rezitative ihres Prologs übernehmen Oboe und Trompete die Rolle des Orfeo. Die von einer polystilistischen Ästhetik ausgehende Tonsprache nimmt historische Stilelemente als konstitutives Material, das das dramatische Geschehen gleichermaßen kommentiert und illustriert. Dabei besteht der Anspruch, der musikalischen Originalsubstanz ebenso gerecht zu werden, wie der Forderung der antiken Rhetoriker nach „docere, movere, delectare“ (lehren, bewegen, erfreuen), die auch im Barock für jedes Kunstwerk Gültigkeit hat.

Frank Löhr

Dächte man sich Beethoven plötzlich wiederkommend und eins seiner Werke gemäß der modernsten Beseeltheit und Nerven-Verfeinerung vor ihm ertönend: er würde wahrscheinlich lange stumm sein, schwankend, ob er die Hand zum Fluchen oder Segnen erheben solle, endlich aber vielleicht sprechen: »Nun! Nun! Das ist weder Ich noch Nicht-Ich, sondern etwas Drittes – es scheint mir auch etwas Rechtes, wenn es gleich nicht das Rechte ist. Ihr mögt aber zusehen, wie ihr's treibt, da ihr ja jedenfalls zuhören müßt, – und der Lebende hat Recht, sagt ja unser Schiller. So habt denn Recht und laßt mich wieder hinab.

- Friedrich Nietzsche

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